Dienstag, 6. November 2012

Back to live – Winter in Kanada


Mein letzter Blogeintrag ist nun schon fast ein Jahr her und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat auch der letzte unter euch den Glauben an mich verloren, bzw, hoffentlich nur den Glauben an diesen Blog.

Ha! Und gerade als ihr es am wenigsten erwartet komme ich auf einmal wieder aus der Ecke hervor. Überraschung!

Ich hatte es aufgegeben. Ich fühlte mich schlecht deswegen, immer mehr Anekdoten stapelten sich auf, die erzählt werden wollten – oder von denen ich annehme, dass sie erzählt werden wollen. Mit längerem Abstand vom letzten Blogeintrag fühlte ich die Erwartungshaltung meiner Leserschaft steigen („Meine Güte, jetzt lässt sie sich aber Zeit. Da erwarte ich jetzt aber auch nen Blogeintrag der mich vom Hocker haut, dooh“). Doch letztendlich dachte ich mir: es ist unwahrscheinlich, dass ihr nach einem Jahr denkt: „Was, das ist alles? Jetzt bin ich aber enttäuscht. Ich hätte bevorzugt, dass sie lieber gar nichts mehr schreibt.“ Bref (frz.: wie auch immer; kurz gesagt:) Hintern hoch und los geht’s!

Da ich es chronologisch ja nicht auf die Kette bekommen habe, entscheide ich mich hiermit für eine neue Erzählstruktur: was mir gerade zufällig in den Kopp kommt. Mal sehen was draus wird.

Also, ich habe meinen ersten Winter in Kanada überlebt und entgegen aller Erwartungen bin ich nicht direkt erfroren. Doch ich sage euch, ich war verdammt nah dran.

Ab Anfang Dezember war die Stadt komplett eingeschneit. Im Gegensatz zu Deutschland hält hier jedoch nicht ab einer Schneedecke von 10cm das Leben komplett an, was selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass der Schnee bis April liegen bleibt. Ein Aussetzten des Alltagslebens für mehrere Monate verkraftet das Land wirtschaftlich nicht, nehme ich an. Autos, Busse und Züge fahren, Flugzeuge heben ab. Als ich mal das Konzept „schneefrei“ erwähnte, lachten meine kanadischen Kollegen mich aus und dachten, ich habe mir diesen lächerlichen Begriff ausgedacht. Straßen und Bürgersteige (!) werden mehrmals täglich geräumt. Aber wohin mit dem Schnee? Es schmilzt ja nichts weg, aber ständig kommt neues nach, man kann das Zeug also nicht einfach an den Straßenrand schieben (außer man möchte eine meterhohe Mauer zwischen Straße und Bürgersteig errichten). Die Lösung: der Schnee wird mit LKWs aus der Stadt gebracht und dort einfach auf leeren Flächen abgeladen. So kommt es, dass wenn man im Mai bei sommerlichen Temperaturen, wenn aller Schnee bereits geschmolzen ist, aus der Stadt herausfährt, draußen noch Schneeberge stehen, die  ganz langsam herunterschmilzen.
Moment mal, leere Flächen? Ja, meine Lieben, wir sind in Kanada. Und wenn es hier ein Problem nicht gibt, ist es Platzmangel. Gut daran zu erkennen, dass es mitten in der Innenstadt mehrere riesige unbebaute Schotterplätze gibt, auf denen absolut nichts ist. Nichts! Nichtmal Parkplätze!
Die Sache mit dem Schnee ist: wenn Ende November/Anfang Dezember die ersten Flocken fallen und die Stadt zuschneit, ist es magisch. Alles ist puderzuckerweiß wie in einem Wintermärchen. Innerhalb weniger Tage wird es matschig-grau und zur Gewohnheit. Gegen Februar will man nur noch, dass es aufhört – im Wissen, dass es noch mindestens zwei Monate dauern wird. Frühling bedeutet: Rausgehen können ohne sich mehrere Minuten in Kleidung einzuwickeln. Die Metrostation betreten ohne sich panisch die soeben liebevoll angelegten Schichten vom Leib zu reißen, weil in der Metro ca. +40 Grad herrschen. Nicht mit jedem mal Haus betreten eine Überschwemmung im Flur verursachen, weil der Schnee, den man nicht abgetreten bekam von den Stiefeln schmilzt. Nicht immer ein zweites Paar Schuhe dabeihaben, damit man nicht drinnen in Astronautenähnlichen Riesenstiefeln rumstapfen muss (ohne die einem draußen innerhalb kürzester Zeit die Zehen abfrieren).

Eins meiner krassesten Kälteerlebnisse war der europäische Weihnachtsmarkt, obwohl es wohl „nur“ so -17° gewesen sind. Den ganzen Dezember über schwelgte ich in nostalgischen Erinnerungen an den deutschen Weihnachtsmarkt. Ich fragte mich: warum ist das denn gerade hier so überhaupt nicht populär? Die winterliche Kälte schreit doch geradezu nach Glühwein und Bratwurst! Ich sollte es herausfinden. Ich machte also im Internet einen europäischen Weihnachtsmarkt ausfindig, der in der Altstadt stattfinden sollte. Voller Vorfreude auf Fress- und Trinkbuden machte ich mich auf den Weg. Als ich ankam war ich erst einmal enttäuscht: auf einem Platz größenmäßig in etwa vergleichbar mit der Schulaula einer kleinen Grundschule standen lediglich ein paar Hütten mit verschiedenen Länderflaggen. Über die Hälfte davon Québec-Flaggen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe Québec, aber unter europäisch hatte ich mir doch etwas anderes vorgestellt (zum Beispiel Länder, die sich tatsächlich in Europa befinden, um das Konzept hier mal zu präzisieren). Es gab einen „deutschen“ Stand an dem sie (vorwiegend schweizerische) Süßigkeiten verkauften, einen Schweizer Wurststand und mehrere Elsass-Stände. Ich dachte mir: so, ich bin hier nicht vergeblich angetanzt, jetzt wird geschlemmt. Und wenn es keine Bratwurst gibt, nehme ich eben nen Elsässer Flammkuchen. Man muss arbeiten mit dem, was da ist, dachte ich. Böser Fehler. Ich hätte es wissen müssen als ich sah, dass alle anderen sich ihre Flammkuchen einpacken ließen. Aber ich dachte mir: „Nix da, auf die Faust, wie es sich gehört.“ Dies wurde dann zu der Situation meines Lebens, bei der ich dem Verlust von Gliedmaßen durch erfrieren am nächsten war. Um den Flammkuchen zu essen, musste ich meine grobschlächtigen Handschuhe ausziehen. Der Kälte ausgesetzt, froren meine Hände augenblicklich ein und jedes mal, wenn vom Flammkuchen heißes Fett auf meine Hände tropfte, schmerzte die gefrorene Haut an dieser Stelle noch mehr. Ich schlang das Ding so schnell wie es mir mit meinem eingefrorenen Kiefer möglich war herunter. (Den Snack aufgeben um dem Erfrierungstod zu entkommen? Nicht mit mir!). Danach hetzte ich zur Metro und zog während der 40 minütigen Fahrt nicht ein einziges Kleidungsstück aus,  so dass ich mich in einer Art körpereigenen Mikrowelle befand, bis ich meine Gliedmaßen wieder spüren konnte.

Die kälteste Temperatur, der ich länger als einen Sprint lang zur nächsten Metrostation ausgesetzt war, waren ca. -32° beim Iglofest. Das Iglofest ist ein bisschen wie das Piknic Elektronic (siehe einer der vorherigen Einträge), aber im Winter. Das heißt es wird ein kleines Festivalgelände aus Schneeblöcken erbaut, eine Bühne installiert und die ganze Nacht über elektronische Musik aufgelegt. Die Leute tanzen bei -30° draußen. Das Iglofest ist sicherlich eins der wenigen elektronischen Musikfestivals in denen 90% des Publikums Schneeanzüge tragen. Ein Bild für die Götter. Ich hätte es zu gern fotografiert, hatte auch meinen Fotoapparat dabei, aber es war echt zu kalt. Ich konnte mich trotz drei Schichten Hose und Socken + Stiefel und Daunenwintermantel nicht bewegen, weil ich komplett eingefroren war. Es wurde so schlimm, dass ich die Wahnvorstellung entwickelte, mein Blut konzentriere sich auf die lebenswichtigen Organe und könne deswegen nicht mehr meine Verdauungsorgane versorgen. Ich trieb es so weit, dass ich letztendlich den Wunsch verspürte mich zu übergeben (weil ja kein Blut mehr in meinem Magen war und ich deshalb alles loswerden musste, „was keine Miete zahlt“, um mal meinen ehemaligen Volleyballtrainer Tom zu zitieren). Arthur war so lieb das Iglofest mit mir nach wenigen Minuten wieder zu verlassen, obwohl wir 15$ für die Karten bezahlt hatten. Nächstes Jahr werde ich es nochmal wagen: Schneeanzug ich komme!

Ich möchte damit nicht sagen, dass ich den Winter hier hasse, aber er gehört sicher zu den Umständen, an die mir die Anpassung schwer fiel. Und fällt. Der nächste Winter steht vor der Tür. Und jetzt gehöre ich zu der Gruppe von Leuten, die den Neuankömmligen durch ihre Anekdoten (s.o.) Angst einjagen. Und so schließt sich der Kreis.

So, das war er. Mein erster Blogeintrag nach fast einem Jahr. Irgendwo muss man mal anfangen. Und ich dachte mir, der kanadische Winter ist etwas, dass für euch interessant sein könnte. Und wenn ihr es bis hier hin geschafft habt, war es ja vielleicht sogar interessant. Oder ihr seid einfach nur treue Freunde. Oder ihr habt ein Problem damit, etwas zu beenden, auch wenn ihr es langweilig findet. Dann solltet ihr daran arbeiten. Vielleicht gibt es ja bald ein paar neue Blogeinträge, an denen ihr euch trainieren könnt. Vielleicht auch nicht (Neue Strategie: Erwartungen immer niedrig halten).